Bastian Zimmermann ist Kurator, Herausgeber und Redakteur im Bereich von Musik und Performance. Er lebt in München und arbeitet frei in den Bereichen Musik und Performance, außerdem als Dramaturg u.a. mit dem Solistenensemble Kaleidoskop, Yael Ronen, Pao Chang Tsai, Amir Sphilman oder Aliénor Dauchez. Als Herausgeber und Redakteur des Magazins Positionen – Texte zur aktuellen Musik, sowie als Autor verschiedenster Textformate reflektiert er disziplinübergreifende Projekte. Weiter kuratiert er die Reihe „Music for Hotel Bars“ und das Festival „Musik Installationen Nürnberg“. Zimmermann interessiert sich als Dramaturg für die sozialen Situationen des Musikmachens, als Kurator für superspezifische und dennoch offene Musikkonzepte sowie als Herausgeber für das allmähliche Abtragen der verkrusteten Strukturen im bürgerlichen zeitgenössischen Musikschaffen. Im Rahmen von Musik Installationen Nürnberg 2022 hatte Bastian Zimmermann Raphael Sbrzesny mit seinen Studierenden eingeladen.
Bastian Zimmermann im Gespräch mit Raphael Sbrzesny
Über 5 Jahre Polyphone Werkstatt, interdisziplinäre künstlerische Lehre und eine
Pädagogik des Exzesses
Bastian: Diese deutschlandweit einzigartige Professur an der Schnittstelle der Disziplinen Freie Kunst, Musik, Digitale Medien und Design existiert jetzt seit 5 Jahren. Eine absolute Besonderheit an deutschsprachigen Kunst- bzw. Musikhochschule ist auch die Interpret*innenkammer, eine von dir initiierte Plattform oder Hybridraum für gemeinsames künstlerisches Arbeiten und Lehre. Wie kommen die unterschiedlichen künstlerischen Praktiken zusammen? In deinen Lehrformaten treffen beispielsweise ein Masterstudierender der Digitalen Medien auf eine Studierende im Fach Bachelor Violine, auf eine Komponist*in, einen Designer, eine Künstlerin die performt und zeichnet. Kannst du beschreiben ob und wie durch die vielen gemeinsamen interdisziplinären Projekte, so etwas wie eine eigene übergreifende künstlerische Praxis entstanden ist?
Raphael: Ja sehr gerne. An der Hochschule für Künste Bremen werden in den verschiedenen Studiengängen sehr unterschiedliche Lehrformen und Unterrichtspraxen gelebt. Von Seminaren, Vorlesungen, künstlerisch-praktischer Projektarbeit, Unterricht in Klassen in der Freien Kunst, über Workshops und Vorträge, Kammermusik und Orchesterspiel bis zu recht klassischen Meisterschüler*innen-Konstellationen im Musikunterricht. Da mit der Professur das Ziel verfolgt wurde, keinen exponierten hoch spezialisierten Masterstudiengang einzurichten, sondern die Studierenden die bereits an der HfK studieren für transdisziplinäre Projekte zwischen Musik, Bildender Kunst und Design zu begeistern, ging es sehr stark darum, ein Lehrsetting zu entwickeln, welches möglichst viele Studierende erreicht und viele unterschiedliche Zugänge schafft. Mir war sehr schnell klar, dass wir eine eigene Arbeitspraxis und Kultur brauchen, wie wir in diesen Gruppenkonstellationen zusammenarbeiten können. Geht man von den Kunsthochschulen üblichen Lehrmodellen: Seminar, Vorlesung, Klasse/Projektarbeit und Meisterschüler*innenmodell aus, hatte ich immer eine Art fünftes pädagogisches Modell im Kopf und dafür den Begriff der Polyphonen Werkstatt vorgeschlagen.
Bastian: Spannend, kannst du das näher erläutern?
Raphael: Dieser Ansatz kommt eigentlich aus den Angewandten Theaterwissenschaften und wurde von David Roesner und Clemens Risi vorgeschlagen, um ein Arbeiten im zeitgenössischen, experimentellen Musiktheater zu beschreiben. Den beiden ging es darum zu untersuchen, wie Personen die jeweils aus ganz unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen kommen, Musiker*innen, Designer*innen, Bühnenbildner*innen, Kostümbildner*innen, Regiesseure oder Komponist*innen gemeinsam Stücke entwickeln. Ein bisschen diesen ‚Groove‘ wollte ich auch in die Lehre bringen. Alle Studierenden sollten die Möglichkeit bekommen sich einzubringen und dabei von ihrer eigenen Ausbildung profitieren, diese Qualitäten aber in neue, interdisziplinäre Kontexte stellen. Die Grundidee der Polyphonen Werkstatt ist, dass Hierarchien nicht abgeschafft, sondern immer neu verteilt und damit in Bewegung gebracht werden. Jeder im Raum anwesende Körper übernimmt die volle Verantwortung für die Gestaltung einer Sitzung und kann dabei genauso eine Atemübung einbringen, einen Text, Tutorial, Filmbeispiel, ein Foto, Zeichnung, Körperarbeit oder Musik, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Möglichkeiten unterschiedlicher Inputs sind unendlich. Einzige Regel: Bezüge herstellen zum gemeinsam gesetzten Thema und zu den Beiträgen der anderen.
Bastian: Hat das denn geklappt?
Raphael: Ich würde auf jeden Fall sagen, dass sich in den letzten 5 Jahren in knapp 35 Lehrveranstaltungen immer wieder dieser gemeinsame ‚Groove‘ eingestellt hat und man hier von einer neuen, anderen Arbeitspraxis sprechen kann. Wichtig ist zu erwähnen, dass in diese polyphonen Werkstätten in den letzten Jahren eine Vielzahl von Gästen, externe Expert*innen und Kolleg*innen eingeladen und integriert werden konnten und sich diese Arbeitsform hervorragend dafür eignet, künstlerische Prozesse und Lehre zu öffnen. Ein für mich wichtiger Lernprozess war, dass sich dieser Polyphone Werkstatt Moment, in dem wirklich gemeinsam eine Art drittes, neues Wissen generiert, immer nur temporär einstellt. Das hat mit den immer wieder wechselnden Konstellationen zu tun, aber auch mit der Dynamik von interdisziplinären Arbeitspraktiken und künstlerischer Lehre insgesamt. Autonomie und Freiheit, Bezüge herstellen und Verbindungen knüpfen, Kontexte lockern und neu denken. Das alles in experimentellen Lehrformaten, nicht linearen Wissenstransfers und in einer unglaublichen Dynamik.
Bastian: Deine Professur für Kreation und Interpretation mit den Schwerpunkten Sound, Performance und Konzept deckt ja sowohl mehrere künstlerische Praktiken als auch Medien ab. Kannst du in Bezug zur Polyphonie der unterschiedlichen Darstellungsformen und Disziplinen in einer Polyphonen Werkstatt erläutern warum das wichtig ist?
Raphael: Bei der Besetzung meiner Professur ist die HfK 2018 einen ungewöhnlichen Weg gegangen. Die Hochschule definierte in einer sogenannten Opentopic-Ausschreibung nur grob das Lehrgebiet und öffnete das Verfahren auf diese Weise. Gesucht wurde jemand der ein Lehrkonzept zwischen den Disziplinen Musik, Freier Kunst, Design und Digitale Medien entwickelt und Studierende auf mehreren Ebenen anspricht. Deshalb konnte ich die Denomination der Professur mitgestalten und wollte zwei Begriffe ins Zentrum stellen: die Kreation, ein Begriff der von franz. creation kommt und mit dem die Uraufführung bzw. Stückentwicklung gemeint ist und die Interpretation, bei der ich aber nicht von der historisch informierten Interpretation spreche, sondern eine offene Form der Aneignung und Neuinterpretation im Sinn hatte. Die Medien in denen gearbeitet wird sind dann wieder recht klar umrissen mit Sound, Performance und Konzept.
Bastian: Hier kommt die emanzipierte Interpret*in ins Spiel oder?
Raphael: Ganz genau! Entscheidend war, dass ich in meiner eigenen künstlerischen Praxis die Figur des emanzipierten Interpreten entwickelt habe, die ich dem historisch informierten Interpreten zur Seite stellen will. Emanzipiert ist die Interpret*in weil sie eine Neuaufteilung des Repertoires oder des Kanons vornehmen kann und sich nicht allein auf die schöne Pflicht der Pflege eines historischen Wissens und Disziplin konzentrieren muss. Den Begriff der Neuaufteilung eigne ich mir von Jacques Rancière an. Er entwickelte in seinem Buch: Die Aufteilung des Sinnlichen eine politische Philosophie, bei der es um die Frage geht, wer gesehen und gehört wird, wer sprechen darf und wer nicht. Politik entsteht da, wo eine neue Aufteilung des Sinnlichen passiert. Also die sprechen die vorher stumm waren, die gehört werden die überhört wurden, die gesehen werden die unsichtbar gemacht wurden.
Bastian: Du eignest dir immer wieder Begriffe an, um diese dann in die Praxis zu überführen oder?
Raphael: In gewisser Weise mache ich das schon vor dem Hintergrund einer emanzipierten Aneignung ja! In Anlehnung an Susan Sontag beispielsweise habe ich oft davon gesprochen, nach Appropriation Art, Konzeptkunst und Neuem Konzeptualismus in der Neuen Musik, von einer Erotik der Interpretation auszugehen. Sontag sprach von einer Erotik der Kunst und wollte die Kunst aus vorgefertigten Deutungs- und Interpretationsmustern emanzipiert wissen. Ich würde sagen, dass wir es heute mit einer Vielzahl von spannenden Remix-, und Samplingmethoden, außerdem einer Vielzahl möglicher Reinterpretationen zu tun haben und hier ein großes Potential für übergreifende und neue künstlerische Praktiken liegt.
Bastian: Den Ort an dem diese künstlerischen Praktiken zusammenwirken und du auch unterrichtest hast du Interpret*innenkammer genannt. Welche Potentiale birgt dieser Raum?
Raphael: Die Idee eine Interpret*innenkammer einzurichten, hing eng mit dem Ansatz der Polyphonen Werkstatt zusammen. Humorvoll wollten wir uns an so etwas wie der Architektenkammer orientieren. Damit eine Polyphone Werkstatt in Gang kommt, war klar, dass wir einen Unterrichtsraum brauchen, der verschiedenen Qualitäten in sich vereint. Ein Atelier welches schallisoliert ist und in dem geprobt werden kann, in dem Instrumente stehen, Klavier, Trommeln, Cymbals. Außerdem Verstärker, ein Drucker, Werkzeug, verschiedene Materialien, Screens, Akkulautsprecher, Mischpulte, Mikrophone und Kabel. Licht, Nebelmaschine, Klebebänder, Akkuschrauber, Stichsägen. Ein Laborraum zwischen Probebühne und Studio, Seminar- und Werkraum. Während der Pandemie war noch entscheidend, wie dieser Raum ins Digitale gespiegelt werden könnte und im Digitalen weiter gedacht wird. Kameras, Remote-Technik, Laptops, Streaming-Technik, Cases, alles portabel und flexibel zu denken war enorm wichtig. Die Interpret*innenkammer wurde im besten Sinne zu einer Art Produktionsbüro doch immer konkret an Lehrinhalte und Projekte gekoppelt. Zur Interpret*innenkammer gehören außerdem zwei temporäre Bühnen, die wir Waben nannten. Eine davon stand im Fachbereich Musik in der Innenstadt und eine im Speicher im ehemaligen Hafen, in dem der Fachbereich Kunst und Design angesiedelt ist. Beide Bühnen wurden immer wieder als Ausstellungsflächen genutzt, außerdem für Konzerte, Performances und Interventionen.
Bastian: Kannst du konkrete Beispiele nennen, wie ihr die Interpret*innenkammer und auch die Waben zum Leben erweckt habt? Erstmal stelle ich mir die Strukturen einer Hochschule recht statisch vor. Eure Idee mit den temporären Bühnen war aber buchstäblich Orte für Begegnung und Austausch über neue künstlerische Arbeitsformen zu schaffen oder?
Raphael: Ja, das ist richtig. Ein konkretes Beispiel für ein polyphones Werkstattformat in der Interpret*innenkammer war eine Lehrveranstaltung im Wintersemester 2018 mit dem Titel Karneval der Nervösen. Ich habe mit den Studierenden die These entwickelt, dass unsere Körper in der Leistungsgesellschaft in einem neokapitalistischen System unter starkem Druck stehen und die Folge eine seltsame Form der Nervosität ist. Das war eine Beobachtung aus der Soziologie und kritischen Theorie, die wir aber für eine künstlerische Bearbeitung für spannend und komplex hielten. Wir hatten die Idee, dass wir eine Art Karneval initiieren wollen, in dem dieser Druck verarbeitet werden soll. Zusätzlich gründeten wir eine Zunft, der verschiedene Figuren, Disziplinen und Künstler*innen angehören. Es wurde eine Besenwirtschaft eingerichtet, ein temporärer Raum mit Bar, die von den Studierenden selbst betrieben wurde. Die Besenwirtschaft ist traditionell ein Ort, an dem sich die Narren ausruhen, aber gleichzeitig temporär auch ein Ort des Ausnahmezustandes. Klassischerweise wird die Besenwirtschaft im Straßenkarneval von engagierten Anwohner*innen betrieben und man setzt sich an diesen Orten über Vorschriften hinweg, wie dass beispielsweise eine Schankerlaubnis benötigt wird. In gemeinsamen Improvisationen entstand Musik, Masken und Kostüme. Studierende aus den Digitalen Medien entwickelten Sensoren, die an den Masken angebracht werden konnten und die Sound produzierten. Es wurde mit Gips gearbeitet, eine klingende Bar gebaut und Skulpturen und verschiedene Charaktere entworfen, die jeweils die Funktion hatten, als eine Art Alter Ego Druck und Nervosität abzuwehren und zu kanalisieren. Ziel war es, dass in diesem Karnevalsorchestra Studierende aus der Alten Musik, mit klassischen Instrumenten, genauso aufgenommen werden konnten wie Punkmusiker*innen aus der Freien Kunst, Noisemusiker*innen oder Soundartists, die Digitale Medien oder Elektroakustische Komposition studieren. Designer*innen konnten Kostüme entwickeln, Metall-, Holz- und Bildhauereiwerkstatt waren eingebunden, aber auch die Soundstudios oder die Nähwerkstatt.
Bastian: Spannend und hilfreich solch konkreten Beispiele für polyphone Werkstattformate zu hören.
Raphael: Eine weitere Werkstatt richteten wir im Winter 2019 ein, als ich mit meinem Kollegen Joachim Held, Professor für historische Lauteninstrumente, eine Konzertperformance mit knapp 45 Studierende realisierte. Wir wollten erforschen, in welchen Kontexten und zu welchem Zweck in der Alten Musik musikalisch verziert wird. Uns fiel auf, dass die Praxis der Verzierung meist ausgeübt wurde, um eine spezifische Emotionalität zu verstärken, oft um eine starke Melancholie bei den Hörer*innen hervorzurufen oder zu intensivieren. Vor diesem Hintergrund entwickelten wir das Projekt Performing Melancholia. Wir wollten die Studierenden zu einer besonderen Form der Berührung und Begegnung untereinander und innerhalb einer Performance ermutigen. Was verhindert eigentlich Begegnung und Berührungen heute? Was steht zwischen uns und wie können wir diese Hürden überwinden? Mit dem Berliner Kollektiv BIEST, das an der Schnittstelle von Architektur und Mode arbeitet, entwarfen wir anschließend große aus Papier gefaltete Objekte die an Heliumballons schwebten und die die Körper der Performer*innen sowohl trennten als auch verbanden. Dass Architektur, Bühnenbild, Falttechniken von Papier oder Stoffen wie wir es aus der Mode kennen mit Alter Musik, Live Elektronik, Performance und Konzert zusammen kamen und sich gegenseitig bereicherte, war völlig neu und ungewöhnlich. Ziemlich intensiv und emotional knapp 6 Wochen bevor wir bedingt durch die Pandemie fast 2 Jahre kaum mehr miteinander in Berührung kamen und zeitweise in einem radikalen Lockdown voneinander getrennt wurden.
Bastian: Diese stark performativen Ansätze und auch die Verbindung zu Theorie ist besonders. Wie hängt das zusammen? Ich denke sofort, auch bei dem Titel deiner Professur, an den Band Kreation und Depression herausgegeben von Christoph Menke und Juliane Rebentisch und an die Engführung von Kreativitätsimperativ und Selbstverwirklichung. Wie bearbeitet man das in der Lehre an einer Kunsthochschule, eigentlich ja der Ort an dem die jungen Menschen ermutigt werden sollen Künstler*innen, Musiker*innen oder Gestalter*innen zu werden?
Raphael: Spannend an Performance ist ja eigentlich diese Doppelte Qualität, dass bestimmte Normen performativ durch Wiederholung eingeübt werden, aber nach Judith Butler klassischerweise eben durch andere, subversive und widerständige Formen der Wiederholung auch wieder gelöst werden können. Das ist eigentlich auch für die Lehre zentral denke ich. Disziplinierungen werden durch Wiederholung gefestigt. Wir legen uns auf verschiedene Disziplinen fest, warum eigentlich? Nur weil irgendjemand mal gesagt hat, dass man für dies und das Talent hätte, muss man nicht sein restliches Leben mit der Ausbildung nur dieses einen Talentes beschäftigt sein. In diesem Zusammenhang spreche ich immer von der Herrschaft des Talents und ich meine damit, dass Talent zu haben auch einschränken kann und nicht nur ein Potential darstellt. In den Polyphonen Werkstätten wollen wir die Studierenden eigentlich ermutigen sich auch wieder an ihre ganzen anderen Qualitäten, ihr Nachdenken, ihre Sorgen, Wünsche und Ideen zu erinnern und zu ermutigen, diese auch (aus-) zu bilden. Irgendwie vllt eine ganzheitliche Form von Ausbildung zu verfolgen. Ich glaube grundsätzlich auch, dass die Studierenden einer Generation angehören und sich viel näher sind in ihren Fragen an das Leben, künstlerische Praxis und Zukunft, als wir lehrenden Personen untereinander. Die lehrenden Personen sind oft in einzelnen Disziplinen professionalisiert und deshalb vllt hier und da auch etwas stuck. Was, wenn die Studierenden eigentlich über eine große Bandbreite an Fragestellungen verfügen die weit über die eine Disziplin die sie studieren hinaus gehen? Diesen Fragestellungen Raum zu geben, halte ich für ziemlich wichtig und ich denke, dass eine polyphone Werkstatt dafür ein geeigneter Ort ist. Hier ist eine Verknüpfung von Theorie und Praxis möglich. Nachdenken, Diskutieren, etwas zusammen machen. Roberto Esposito behandelt in seinem Band Institution und Biopolitik meine ich in gewisser Weise dieses Spannungsfeld aus scheinbar starren Institutionen und sozialen Bewegungen. Lasst uns die Institutionen als veränderbar denken, weil wir es mit sozialen Fragen und jungen Menschen zu tun haben. Ich sehe unsere Aufgabe nicht darin einen bestimmten Kanon linear zu vermitteln, sondern immer eine Form der Neuaufteilung dessen vorzunehmen, was wir als lehrende Personen schon zu wissen und zu können glauben.
Bastian: Entscheidend scheint in den gemeinsamen Lehrformaten die Themenfindung zu sein oder?
Raphael: Guter Punkt ja. Eigentlich sollte am Anfang einer polyphonen Werkstatt der Prozess stehen, dass sich die Gruppe mit der lehrenden Person gemeinsamen auf ein Thema zu dem man arbeiten will verständigt. In freier Projektarbeit ergeben sich solche Themen oft aus Antragsstrukturen und Förderlogiken heraus, so ehrlich sollten wir sein. Freier können Kollektive meist nur dann arbeiten, wenn sie über feste Förderstrukturen verfügen, die über mehrere Jahre laufen. An der Hochschule haben wir die Freiheit von Semester zu Semester recht schnell auf Themen zu reagieren die uns relevant erscheinen. Klar ist, dass an der Hochschule die Aufgabe, ein spannendes, aber gleichzeitig offen formuliertes Themenfeld in den Raum zu werfen, oft in das Aufgabengebiet der lehrenden Person fällt. Die Veranstaltung muss ins Vorlesungsverzeichnis (lacht!) und es ist wichtig, eine erste Diskussionsgrundlage zu schaffen. Ich versuche deshalb jeweils im laufenden Semester offen zu sein für mögliche Themen und Arbeitsfelder die für die Studierenden wichtig sind und greife diese dann sofort auf. Im Optimalfall reicht es aus im Vorlesungsverzeichnis eine erste Spur oder Fragestellung zu formulieren und stellt diese dann sofort in der ersten Sitzung zu Beginn des Semesters zur Disposition.
Bastian: Kannst du noch näher auf deine Rolle als lehrende Person eingehen? Du hast mehrfach über Hierarchien gesprochen, die nicht abgeschafft werden, aber in Bewegung kommen sollen und wechseln. Bei den Musikinstallationen Nürnberg beispielsweise warst du Impulsgeber und hast deine Studierenden nach Nürnberg und in Kollaboration mit DAF, der ehemaligen Klasse von Jan St. Werner, gebracht, dich dann aber auch zurückgezogen. Gibt es da ein bestimmtes Konzept oder wie gehst du vor?
Raphael: Eigentlich ist es oft sehr unterschiedlich. Grundsätzlich gehe ich
aber von einer Gleichheit der Intelligenzen aus. Im Sinne von Rancière Unwissendem Lehrmeister und seinem emanzipierten Zuschauer, will ich jedem Studierenden mit seinem
oder ihrem singulären Erfahrungshorizont Raum geben. Rancière geht davon aus, dass jede
Zuschauer*in das was sie sieht immer schon in Bezüge setzt zu dem was sie kennt, gesehen oder
gehört hat, also in dieser Interpretation aktiv ist, nicht passiv. Hier steckt eine radikale Idee
dahinter was in unserer Gesellschaft als passiv und aktiv angesehen wird. In einer polyphonen Werkstatt
halte ich es für reizvoll, dass jede mitarbeitende Person unterschiedliche Dinge tut, also jeweils
nicht nur das Feld bearbeitet, in dem sie sich professionalisiert hat, sondern auch andere Aufgaben mit
erledigt. Dazu gehört dann, dass die lehrende Person beispielsweise nicht nur lehrt und moderiert,
sondern auch 3,5 Tonner fährt, Plakate klebt, Zeug schleppt, in den Baumarkt fährt, Texte
kopiert, Musik macht, kocht und Monitore an die Wand spaxt. Im Optimalfall ist man dann nicht nur
Impulsgeber, sondern arbeitet ein Projekt mit den Studierenden zu Ende. Ich denke dabei auch daran, dass
die lehrende Person interveniert, unterschiedliche Rollen einnimmt, durchaus auch Regie führt um zu
helfen Produktionen zu einer finalen Aufführung zu bringen. Studierende lernen nicht nur in einer
Werkstattkonstellation, sondern natürlich auch durch eine fertige Produktion, die man gemeinsam
realisiert. Interessant ist zu sehen was passiert, wenn Lehrprojekte den geschützten Raum der
Hochschule verlassen, wenn mit externen Partner*innen kooperiert wird und man auch an die
Öffentlichkeit tritt. Wie reagiert die Gruppe unter Aufregung oder einer bestimmten Dynamik? Wird
die lehrende Person dann als Herrensignifikant angerufen alles zu schlichten und zu moderieren oder
nimmt man die Herausforderung, Diskussion, Auseinandersetzung gemeinsam als Gruppe an und somit auch
Verantwortung?
In Nürnberg war es eine spezielle Situation, weil die beiden Kollektive sich in unterschiedlichen
Prozessen im Bezug zu ihren jeweiligen Institutionen befunden haben. DAF löste sich gerade nicht nur
von den lehrenden Personen, sondern auch von der Akademie, die Interpret*innenkammercrew kannte eine
lehrende Person die eng in Projekte eingebunden und damit natürlich auch präsent war. Beim
Festival habe ich daraufhin entschlossen zwar anwesend zu sein, aber weder zu moderieren, noch in einer
Performance aufzutreten oder bei Konflikten zu schlichten. Was ich gemacht hatte war, mich der Gruppe
anzuschließen die dokumentierte und ich begann die Performances, die über den gesamten
Stadtraum verteilt stattfanden, wie ein rasender Reporter auf nem E-Scooter miteinander zu vernetzen
(lacht!). In gewisser Weise habe ich mich buchstäblich dem Flow des Festivals hingegeben, welches
ja das Ziel hatte Musik-, Raum- und Körperkonzepte neu zu denken. Eigentlich würde ich sagen,
dass ich dort auch meiner Art zu unterrichten nochmals eine andere Schattierung hinzufügen konnte.
Ich habe viel gelernt und neu erfahren und die unterschiedlichen Projekte, sowohl vom Festival, als auch
von den Studierenden ganz anders genießen können.
Bastian: Du hattest in einem früheren Gespräch einmal von einer gewissen Porosität im Zusammenhang mit Lehre gesprochen. Ich glaube, dass du damit die Offenheit meintest, dass sich Studierende und vllt auch du selbst in einer solchen Werkstattsituation nochmal ganz anders entwickeln können als wenn einfach der Herrschaft des Talents gefolgt wird. Trotzdem die vllt etwas ordinäre Frage, zeichnen sich da schon interessante Biografien und Wege ab? Wo profitieren die Studierenden von den Erfahrungen, die sie in den transdisziplinären Kontexten gemacht haben und können die vllt sogar anwenden?
Raphael: Die Frage würde ich nicht als ordinär bezeichnen, weil wir die Studierenden ja nicht in ein seltsames Paralleluniversum entlassen, sondern jede und jeder seinen oder ihren künstlerischen Weg geht. Trotzdem nicht ganz einfach zu antworten. Die dirty Antwort ist vllt, dass ich natürlich sehe, dass 4 Studierende mit denen ich intensiv gearbeitet habe, eine sehr eigenständige Performance in einem ehemaligen Krematorium entwickeln und damit den D-Bue Wettbewerb der deutschen Musikhochschule für neue Konzertformate gewinnen, oder dass Nicolas Fehr, mit dem ich während seines Meisterschülerstudiums arbeiten durfte, das renommierte Karl Schmidt Rottluff Stipendium für Bildende Kunst zuerkannt bekommt. Toll ist, dass es auch eine Reihe ehemaliger Studierende gibt, die selber ziemlich schnell beginnen als Hochschuldozent*innen zu arbeiten, teilweise auch in leitenden Funktionen oder dass sich eine Vielzahl von Ausbildungswegen zeigen wo Studierende einer Doppelbegabung oder verschiedenen Interessen folgen. Design und Performance verbinden, Musik und Bildende Kunst, Digitale Medien und politische Aktionen, Performance und künstlerische Forschung bis hin zu eigenen PhD Vorhaben und Forschungsprojekten. Sehr viele Studierende arbeiten über Epochengrenzen hinweg, transdisziplinär, zwischen populärer und experimenteller Musik, Performance, szenischen Konzerten, Videoinstallationen bis hin zu Skulptur.
Bastian: Was auch auffällt ist die Art und Weise der Projektdokumentation. Also die Sichtbarkeit/Sichtbarmachung und die spezielle Form der gesammelten Lehrhefte, wie du sie nennst. War das von Anfang an eine Idee, so eine Art offenes Archiv anzulegen, um der Offenheit der Formen gerecht zu werden, wie du es auf der Homepage interpretinnenkammer.com gesagt hast oder was erhoffst du dir dadurch?
Raphael: Mit dem Gestalter Nicolas Zupfer hatten wir ganz zu Beginn meiner Lehrtätigkeit überlegt, wie wir die unterschiedlichen Initiativen und Projekte, die rund um die Interpret*innenkammer entstehen, für möglichst viele Studierende dokumentieren und zur Verfügung stellen können. Begonnen hatten wir die Serie der Lehrhefte eigentlich mit meiner Antrittsvorlesung und meinem Antrittskonzert, beides Veranstaltungen bei denen schon Studierende involviert waren. Daraus ergab sich die Idee, die Lehrhefte aus einfachen Posterformaten heraus zu entwickeln, die wir ursprünglich gar nicht binden wollten, sondern in einem Schuber publizieren. Die Grundidee war, dass die Projekte, ähnlich wie auf der Homepage, keiner Chronologie folgen oder einer Ordnung nach Medien, sondern in verschiedenen Konstellationen nebeneinander existieren und angeschaut werden können. Dadurch ergaben sich die Farbcodierung und die mittlerweile 50 Hefte. Auf der Homepage haben wir auf der Startseite versucht diesem Prinzip einer nicht hierarchischen Ordnung der Projekte gerecht zu werden. Immer wenn du die Seite neu aufrufst, erscheinen die Bilder in neuen Ordnungen und Reihenfolgen. Eher wie ein Rhizom, weniger wie eine Genealogie. Im Bestfall kann man als Besucher*in der Homepage immer wieder neue Verbindungen und Verknüpfungen herstellen. Die Icons auf der Seite sind dynamisch und können mit dem Cursor bewegt werden und auch die grafische Notation verändert sich alle 20 Sekunden, so dass die Homepage selbst wie eine offene grafische Notation funktioniert. Im Rahmen der Hochschultage haben wir 2022 den Launch der Homepage auch mit einer musikalischen Aktivierung durch ein gemischt besetztes Ensemble gefeiert. Während die Lehrhefte von Anfang an ziemlich regelmäßig gedruckt und ausgestellt wurden, haben wir die Form der Homepage mit der Zeit, vor allem in enger Zusammenarbeit mit zwei Studierenden, Ruben Lyon und Christine Claussen entwickelt. Das hat unglaublichen Spaß gemacht wie die beiden sehr spielerisch, aber gleichzeitig auch konzeptionell stark mit dem Interpret*innenarchiv umgegangen sind.
Bastian: Ihr habt innerhalb der künstlerischen Disziplinen an der Hochschule übergreifend zwischen Freier Kunst, Performance, Design, Digitalen Medien und verschiedenen Formen der Musik gearbeitet, aber zuletzt sind auch mehr und mehr Projekte mit externen Partner*innen dazu kommen, die man auf den ersten Blick gar nicht mit den Künsten in Verbindung bringt. Was ist da die Idee dahinter?
Raphael: Das ist wirklich eine schöne Entwicklung. Also nicht nur
interdisziplinär in Bezug zu den Künsten zu arbeiten, sondern im besten Sinne
transdisziplinär sogar mit ganz verschiedenen soziopolitischen Bereichen und Kontexten. Ganz
aktuell arbeiten wir an einem Projekt mit dem Arbeitstitel: Bunker Requiem im Denkort Bunker
Valentin und der Landeszentrale für politische Bildung zusammen. Der Bunker Valentin war eines der
größten Projekte der Rüstungsindustrie zum Ende des zweiten Weltkrieges, bei dem knapp
2000 Zwangsarbeiter*innen ihr Leben verloren. Wir wollen Musik und Formen des Erinnerns und
Erinnerungsarbeit zusammenbringen, aber auch Musik, Performance und politische Bildung. Also wirklich
verschiedene Bildungsprozesse miteinander kreuzen. Das ganze Projekt soll in eine künstlerische
Konzertperformance münden. Oder aber auch das Projekt Against toxic body images, welches
ich mit meiner Kollegin Prof. Kati Barath, die eine Klasse für figurative Malerei leitet,
realisiert habe. Hier wollten wir über toxische Körperbilder arbeiten und dafür digitale
Bildverfahren nutzen um neue, andere Körper zu denken, aber auch performativ mit den Mitteln von
Malerei. Kooperiert haben wir dabei mit einem Offspace für psychische Gesundheit, der von Janna
Rohloff betrieben wird, die selbst eher aus dem therapeutischen Bereich kommt und lange in der
Psychiatrie gearbeitet hat. Sie brachte verschiedene Stockkampftechniken und therapeutisches Boxen mit
ein. Disziplinen oder Techniken die performativ sind, empowern aber eher in therapeutischen Kontexten
genutzt werden. Hier wurden also eine bestimmte Form von Malerei mit Kampftechniken und
Körperpraktiken verbunden um zu empowern und Praxen miteinander zu verschränken, die im ersten
Moment gar nicht zu einander zu passen scheinen.
Ein weiteres spannendes Projekt war die Summerschool mit dem Titel Autonomie und Spektakel die
ich mit dem Gestalter Paul Steinmann angeboten habe. Hier kooperierten wir mit einem ehemaligen
Kohlekraftwerk in Luckenwalde, welches heute wieder von einer Künstler*innengruppe um Pablo Wendel
betrieben wird. Die gesamte Infrastruktur des Kraftwerks wurde so gehackt und umgebaut, dass man mit
nachhaltigen Materialien (genauer dem Verbrennen von Holzhackschnitzeln) Strom und Energie
erzeugen kann. So werden dort Ausstellungsräume betrieben und das gesamte Haus ist unabhängig
vom deutschen Stromnetz, mehr noch, es wird sogar wieder Strom in das öffentliche Netz eingespeist.
Hier entwickelten wir mit den Studierenden verschiedene übergreifende Workshops im Geiste eines
transdisziplinären, interdisziplinären Blackmountaincolleges. In solchen Projekten
die Hochschule zu verlassen, setzt oft enorme Energien frei. So beispielsweise auch bei dem Projekt
Recomposing Biopolis in Florenz. Die Studierenden beschäftigten sich mit
zeitgenössischer italienischer Philosophie und Denker*innen wie Roberto Esposito oder Donatella di
Cesare um über Formen der Communitas und Immunitas, außerdem einer Philosophie der Migration
zu arbeiten. Für einen leerstehenden Staudamm mitten in Florenz erarbeiteten wir mit knapp 50
Studierenden und Stipendiat*innen der Studienstiftung des deutschen Volkes eine Performance mit
Choreografien, Musik und Kostümen. Für einen kurzen Moment könnte man sagen, kam es
wirklich zu einer Neuaufteilung des öffentlichen Raumes.
Performing Violence, eine Performancearbeit in einem Kickboxstudio, die sich mit verschiedenen
Formen von Gewalt gegen weiblich gelesene Personen beschäftigte. Bei dem Projekt Reopening
intimate Space entwarfen die Studierenden 4 Flöße auf denen Musiker*innen platziert
wurden und eröffneten unter einer Brücke auf den Gewässern der Weser mitten in der Bremer
Innenstadt für die Dauer eines Abends einen temporären Konzertraum. Wichtig ist mir, dass in
diesen Lehrprojekte die Künste auf spannende Weise mit urbanem Raum, soziopolitischen
Fragestellungen und externen Partner*innen in Berührung kommen und den Studierenden bewusst wird,
dass wir mit künstlerischen Mitteln intervenieren, überraschen und neue Impulse setzen
können.
Bastian: Die 5 Jahre Lehre schließt du im Sommer 2023 mit einem Lehrformat mit dem Titel Exit Exzess – Überlegungen zu einer Pädagogik des Überschusses ab. Was hat es damit auf sich?
Raphael: Im Prinzip ist das ein Versuch auf eine Entwicklung zu reagieren, die
ich zuletzt immer öfter in der Lehre beobachte. Viele Inhalte, Projekte, Begegnungen oder Thesen
die potentiell grenzüberschreitend, Grenzen erweiternd sind oder verschiedene Fragestellungen
miteinander verknüpfen, die in welcher Form auch immer herausfordernd sind, sollen mit
Inhaltswarnungen versehen werden. Die lehrende Person soll immer mehr auf jede Eventualität vor- in
jedem Fall aber aufwendig nachbereiten und vermitteln. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob
fachübergreifendes, transdisziplinäres Arbeiten nicht immer in einer bestimmten Form exzessiv
ist und sich damit vielleicht auch überwältigend anfühlen kann.
Was mich interessiert ist, eine Lehre des Überschusses und des Exzesses, des Zu-viel zu
denken. Ich meine damit nicht eine ordinäre Avantgarderhetorik von Überwältigung, sondern
eher im Gegenteil einen Ort der Fürsorge: Im Wissen, dass sich wirklich Neuem zu öffnen in
jedem Fall überwältigend sein wird und zwar im doppelten Sinne, also etwas öffnet und
ermöglicht und trotzdem irritierend sein kann, würde ich gerne einen Resonanzraum vorschlagen
in dem das passiert. Erneut die Polyphone Werkstatt speziell auf diesen Zusammenhang hin erproben. Hey:
wäre nicht die Polyphone Werkstatt genau der Ort, an dem auch eine Form der Dissonanz im
übertragenden Sinne zu Musik wird? Der Ort an dem wir uns gemeinsam, geschützt, weil in der
Gruppe Neuem zuwenden? Performing the polyphonic Workshop. Performing the unknown. In der polyphonen
Werkstatt können wir mutig sein, weil wir sie gemeinsam gestalten!